Klausurbearbeitung I - Der Sachverhalt

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In Klausuren wird von Dir verlangt, was Du auch später in der Praxis können musst: Fälle lösen. Juristische Klausuraufgaben bestehen typischerweise aus einem Sachverhalt und daran anknüpfenden Fallfragen. Die Beantwortung dieser Fragen erfolgt in einem Gutachten, das sich durch eine besondere Struktur und Darstellungsweise auszeichnet. Diese musst Du kennen und beachten. Bevor Du ein solches Rechtsgutachten zu Papier bringen kannst, bedarf es gedanklicher Vorleistungen. Zunächst einmal musst Du den Sachverhalt erfassen (Schritt 1) und die Fallfragen verstehen (Schritt 2). Sodann solltest Du Dir eine Lösungsskizze erstellen (Schritt 3), auf deren Grundlage Du schließlich die Reinschrift formulierst (Schritt 4).

Der erste Arbeitsschritt besteht darin, den Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht richtig zu verstehen. Die Fallbearbeitung hat mit dem Bemühen um die richtige und vollständige Erfassung des Sachverhalts zu beginnen. Das klingt banal, ist es aber nicht. Du hast den Sachverhalt als verbindlich anzunehmen. Du darfst ihn nicht in Frage stellen. Der Sachverhalt ist so hinzunehmen, wie er ist. Was der Sachverhalt mitteilt, ist geschehen; was er nicht mitteilt, ist nicht geschehen. Die willkürliche Abänderung des Sachverhalts – man nennt dies „Sachverhaltsquetsche“ – ist streng verboten. Sachverhaltskreativisten sind aus Sicht der Prüfer:innen oftmals nichts anderes als Klausurquerulanten. In diese Kategorie möchtest Du nicht eingeordnet werden, denn Punkte bringt Dir das in der Klausur sicherlich nicht. Du darfst dem Sachverhalt also nichts hinzufügen und Dir auch nichts wegdenken.

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Wichtig ist, dass Du Dir hinreichend Zeit lässt, um Dich mit dem Sachverhalt vertraut zu machen. Die gründliche Kenntnis des Sachverhalts ist das Fundament jeder Falllösung. Und am Fundament spart man nicht, trotz der üblichen Zeitnot, die Du in der Klausursituation regelmäßig verspüren wirst. Wer bei der Erfassung des Sachverhalts Zeit zu sparen versucht, der spart an der falschen Stell. Der Sachverhalt sollte mehrmals gelesen werden, mindestens zweimal. Kein Detail darf übersehen, kein Element des Sachverhalts darf missverstanden werden. Unterstreichungen und Randnotizen solltest Du erst beim zweiten Lesen vornehmen, da Du beim ersten Lesen dazu neigen wirst, zu viel zu unterstreichen. Alternativ solltest Du beim ersten Lesen nur mit einem Bleistift und erst beim zweiten Lesen mit einem Farbstift oder Textmarker arbeiten.

Lösungshinweise finden und Interessenlage der Beteiligten verstehen

Besonders zu beachten sind Daten und Zahlen. Du solltest Dir also auch die Zeit nehmen, die in der Aufgabe zitierten oder auf dem Aufgabenzettel mit abgedruckten Gesetzesparagraphen nachzulesen. Nicht selten erteilt der Ersteller des Aufgabentextes kleine Hinweise auf die zu erörternden rechtlichen Probleme und deren Lösung. Du solltest solche Hinweise nicht überbewerten, aber sie können Dir zumindest eine Orientierung dafür geben, in welche Richtung Deine Prüfung gehen könnte.

Im Aufgabentext werden die Rechtsansichten der Beteiligten meistens mitgeteilt. Dies erkennst Du daran, dass im Sachverhalt beispielsweise die Rede davon ist, dass ein Abgeordneter ein neues Gesetz für verfassungswidrig hält oder dass ein Mieter der Meinung ist, seine Miete mindern zu können. An solche Rechtsausführungen bist Du aber – ebenso wie ein Richter in der Praxis – nicht gebunden. Es gilt insoweit der Grundsatz: „Da mihi facta, dabo tibi ius“ – Gib mir die Tatsachen, ich werde Dir das Recht geben. Wohl aber lässt sich aus dem Umstand, dass der Aufgabenersteller die – in der Regel konträren – Rechtsauffassungen der Beteiligten mitteilt, schließen, dass er von Dir erwartet, dass Du Dich mit diesen auseinanderzusetzt. Du solltest also auf die Rechtsausführungen der Beteiligten eingehen, auch wenn Du Dich ihnen nicht anschließen möchtest.

Aus den im Sachverhalt geschilderten Ansichten und Meinungen der Beteiligten lässt sich zudem deren jeweilige Interessenlage verstehen. Und das ist wichtig. Denn Du solltest versuchen, Dich in die Interessenlage der im Sachverhalt beteiligten Personen hineinzuversetzen. In besonderem Maße gilt dies für zivilrechtliche Aufgabenstellungen. Bei ihnen ist es für das Verständnis der juristischen Fragestellung unerlässlich, den Sachverhalt auch in seiner ökonomischen Dimension zu erfassen. Du musst Dir daher die wirtschaftlichen Zielvorstellungen der Parteien vor Augen führen. Nur dann wird es Dir gelingen, die in Betracht kommenden Ansprüche zu prüfen, und zwar in einer sinnvollen Reihenfolge. Ein gute:r Jurist:in muss nicht nur Normen lesen, deuten und verstehen können, sondern auch Situationen, Geschehnisse und Äußerungen. Besonders im Sachverhalt wiedergegebene Rechtsansichten der Beteiligten sind für die Lösung des Falles in aller Regel relevant; in ihnen liegt häufig ein Hinweis auf Argumente, mit denen eine Auseinandersetzung erwartet wird.

(Keine) Sachverhaltsquetsche und Brainstorming

Besonders zu warnen ist davor, beim ersten – oftmals viel zu flüchtigen – Lesen des Sachverhalts vorschnell zu glauben, das Problem des Falles in einer bekannten Gerichtsentscheidung oder einem bekannten Streitstand gefunden zu haben. Viele Student:innen neigen dazu, Sachverhalte als „alten Bekannten“ zu begrüßen und die geläufige Lösung geradezu blindlings herunter zu schreiben. Das kann gewaltig in die Hose gehen. Denn nicht selten muss man den Sachverhalt verbiegen, damit er zu der gewünschten Lösung passt. Und da wären wir dann wieder bei der „Sachverhaltsquetsche“, die es ja gerade zu vermeiden gilt. Deine Aufgabe ist es nicht, für eine bestimmte Lösung einen passenden Sachverhalt zu finden, sondern umgekehrt. Schon kleine Änderungen des Sachverhalts können eine deutliche Problemverlagerung zur Folge haben. Du solltest es deshalb unbedingt vermeiden, schon bei der Erfassung des Sachverhalts nach einem ähnlichen (bekannten) Sachverhalt zu suchen.

Beim Lesen schießen Dir in aller Regel erste Gedanken zu einer möglichen Lösung durch den Kopf. Das ist nicht schlimm. Wichtig ist nur, dass Du mit diesen „ersten Intuitionen“ richtig umgehst. Du solltest sie zunächst einmal aufschreiben, sei es am Rand des Aufgabentextes oder auf einem gesonderten Merkzettel. Insbesondere gilt dies für Rechtsnormen, die Du für einschlägig hälst. Du solltest Dich bei dieser weitgehend intuitiven Vorgehensweise aber nicht selbst ausbremsen, sondern ruhig alles aufschreiben, was Dir in den Sinn kommt. Denn damit schaffst Du einen freien Kopf für weiteres Nachdenken.

Zudem entgehst Du so der Gefahr, wichtige Ideen zu vergessen. Sobald ein aufgeschriebener Gedanke später wieder verworfen oder in der Lösung umgesetzt worden ist, solltest Du die betreffende Notiz am besten durchstreichen. Das schafft einen guten Überblick über den Stand der Bearbeitung und gibt Dir ein gutes Gefühl, nichts Wesentliches vergessen zu haben.

Skizzen erstellen

Sind im Sachverhalt mehr als zwei Personen beteiligt, empfiehlt sich die Anfertigung einer Personenskizze. Zeitangaben oder zu trennende Handlungsstränge sind in einem Zeitstrahl zu erfassen oder in die Personenskizze zu integrieren. Die exakte Zeitabfolge kann insbesondere für verfahrens- und prozessrechtliche Probleme bedeutsam sein. Sie kann aber auch für materiell-rechtliche Fragen Relevanz haben, etwa in einer zivilrechtlichen Aufgabenstellung für den Eintritt der Verjährung oder die Möglichkeit der Ausübung von Gestaltungsrechten oder in einer öffentlich-rechtlichen Klausur für die Fristberechnung bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Sinnvoll kann auch die Anfertigung eines Lageplans sein, etwa im Bau- und Nachbarschaftsrecht. Für alle Skizzen, Zeitachsen und Lagepläne gilt aber, dass diese lediglich der eigenen Hilfe dienen und nicht zum Bestandteil der Klausurlösung gemacht werden können.

Kein Sachverhaltsquetsche, ok – aber gibt es Ausnahmen?

Zu Beginn haben wir gesagt, dass der Sachverhalt keinesfalls verändert werden darf. Er ist vollständig und enthält alles, was Du für eine überzeugende Lösung benötigst. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht manchmal aber etwas anders aus. Manchmal ist der Sachverhalt in einem entscheidungserheblichen Punkt mehrdeutig. Das kann unterschiedliche Gründe haben. In den allermeisten Fällen handelt es sich um eine subjektiv empfundene Mehrdeutigkeit. Sie liegt also nicht am Sachverhalt selbst, sondern schlicht daran, dass Du den Sachverhalt noch nicht ganz durchdrungen hast und noch nicht alle Einzelheiten in ihrem Zusammenhang erfasst hast. Der Fehler ist also zunächst einmal bei Dir selbst und nicht im Sachverhalt zu suchen.

Die Selbstzweifel haben aber auch ihre Grenzen, denn nicht jeder Sachverhalt ist perfekt. Vielleicht soll er es auch gar nicht sein. Die Lückenhaftigkeit eines Sachverhalts kann zum einen daran liegen, dass es auf den scheinbar fehlenden Umstand in der rechtlichen Lösung gar nicht ankommt. Dann aber ist der Sachverhalt streng genommen gar nicht lückenhaft, denn er muss Dir ja nur diejenigen Informationen liefern, die dieser für die Lösung benötigt. Der Umstand, dass ein Sachverhaltselement aus Deiner Sicht fehlt, ist dann ein Indiz dafür, dass Du einen falschen Lösungsweg eingeschlagen hast. Dies kann jedoch eine hilfreiche Erkenntnis sein. Die Lückenhaftigkeit kann zum anderen aber auch deshalb bewusst durch den Klausurersteller in den Sachverhalt eingebaut worden sein, weil er Dich dazu animieren möchte, den Sachverhalt bzw. die Lücke entsprechend auszulegen.

Als klausurtaktische Faustregel gilt dann, dass der Sachverhalt möglichst “problemfreundlich” ausgelegt werden sollte. Der Klausurersteller möchte ja gerade sehen, dass Du alle möglichen Probleme des Falles richtig einordnen kannst und mit ihnen umzugehen weißt. Wenn Du die “Lücke” im Sachverhalt nun so auslegst, dass Du möglichst schnell zu einem Ergebnis gelangst, übersiehst Du unter Umständen etwas, das bei näherer Betrachtung zu einem anderen Ergebnis führen würde.

Es wird häufig vorkommen, dass ein Sachverhalt nicht alle entscheidungsrelevanten Umstände benennt. Denn auch in der Praxis kennt ein Gericht nicht immer alle Umstände, die es kennen müsste, um mit absoluter Sicherheit die richtige Entscheidung zu treffen. Man könnte sogar ketzerisch formulieren: „Gerichte entscheiden immer nur fiktive Sachverhalte, die mit der Wirklichkeit oftmals nicht in Einklang zu bringen sind.“ Auch damit muss eine Rechtsordnung umgehen können. Und unsere Rechtsordnung kann dies auch. Bestehen Zweifel an der Schuld des Angeklagten, so muss er freigesprochen werden. In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten. Die Beweislast trifft hier immer den Staat. Will er einen Bürger bestrafen, dann muss er ihm dessen Schuld nachweisen. Es gilt der Ermittlungsgrundsatz, auch Untersuchungsgrundsatz genannt. Staatsanwaltschaft und Gericht haben den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und alle Tatumstände zu ermitteln, nicht nur solche, die gegen den Beschuldigten sprechen, sondern auch solche, die ihn entlasten. Ganz ähnlich verhält es sich im Verwaltungsprozessrecht. Auch dort gilt der Amtsermittlungsgrundsatz. Die Unerweislichkeit einer Tatsache – das sogenannte „non liquet“ – geht zu Lasten des Beteiligten, der aus ihr günstige Rechtsfolgen herleitet. Noch deutlicher wird dies im Zivilprozess. Dort gilt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der sogenannte Beibringungsgrundsatz. Das Gericht darf Tatsachen, die nicht von einer Partei vorgetragen sind, bei der Entscheidung nicht berücksichtigen.

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Bearbeitervermerk beachten

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass ein dem Sachverhalt beigefügter Bearbeitervermerk als wesentlicher Bestandteil der Aufgabe ebenfalls sorgfältig zu beachten ist. Er kann insbesondere Hinweise auf das anzuwendende Recht geben und den Umfang der erwarteten Lösung begrenzen. Beispielsweise können im Zivilrecht einzelne Anspruchsgrundlagen ausgeklammert werden. In strafrechtlichen Klausuren kann von der Prüfung einzelner in Betracht kommender Delikte abgesehen werden. Umgekehrt kann aber auch durch einen Bearbeiterhinweis – und wenn auch nur höchst vorsorglich – angeordnet werden, dass mehr zu prüfen und darzustellen ist, also dies in der Praxis für eine Entscheidung erforderlich wäre. Zu denken ist beispielsweise an den Hinweis in öffentlich-rechtlichen Klausuren, dass im Falle der Unzulässigkeit eines Rechtsbehelfs ein sogenanntes Hilfsgutachten über die Begründetheit des Rechtsbehelfs zu erstellen ist.

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